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Nach dem Essen sollst du ruh’n

Das Menü

Eine Kurzgeschichte von Helene Loev

Erster Gang

Er sitzt wie jeden Abend an einem der Fenstertische im Restaurant „A Table“ und betrachtet das Treiben auf der Straße. Die Leute hasten vorbei, dick eingehüllt in Mäntel und Jacken. Manche tragen Mützen, andere haben einen Schal fest um den Hals gebunden. Fast alle pressen einen Schirm eng an den Körper. Wind und Regen peitschen gegen die Scheiben. 

Vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Champagner. 

Es ist 19.30 Uhr. Das Restaurant ist bisher nur vereinzelt gefüllt. Im hinteren Bereich hat vor wenigen Minuten ein älteres Paar Platz genommen. Zwei Tische entfernt von ihm sitzen vier Engländer, wahrscheinlich Touristen. Claire, die jüngere der beiden Bedienungen, tritt zu ihnen. Einer der Herren gibt die Bestellung auf. Sein Französisch ist recht passabel, auch wenn der britische Akzent unverkennbar ist. Die Briten wirken gebildet. Die Herren sind korrekt gekleidet, die Damen versprühen sogar einen Hauch von Eleganz. „Verzeihung“, spricht er sie an, „was verschlägt Sie in unsere Stadt?“ „Urlaub“, antwortet der eine der Herren. Sie seien eine knappe Woche in der Gegend, ergänzt die Dame, „und dieses Restaurant hat uns der Hotelchef empfohlen.“ „Eine sehr gute Wahl“, bestätigt er. Er sei jeden Abend hier. „Das Essen ist exzellent und aufgrund der attraktiven Menüpreise auch recht erschwinglich.“ Die nicht ganz so geschmackvolle Einrichtung müsse man halt ignorieren. Die gelben Tapeten, der graue Teppichboden mit den roten Linienblüten, die gelben Tischdecken und die mit rotem Samt überzogenen Stühle – all das sei ihm zu plüschig, aber er sieht gern darüber hinweg, solange das Essen schmeckt und der Service stimmt.

Marguerite, die ältere der beiden Bedienungen, eine Frau Ende 40, kommt an seinen Tisch und stellt eine Karaffe Wasser hin. „Salut Jacques. Gut siehst du heute aus.“ Er winkt ab. „Ach, hör auf zu scherzen. Bring mir lieber was zu essen.“ „Selbstverständlich, mein Lieber, dafür bin ich hier. Was soll es heute Abend sein?“ Jacques bestellt als Vorspeise die Foie Gras und danach den Loup de Mer. „Ist er frisch?“ „Ja, Louis hat ihn heute Morgen gefangen.“, bestätigt die Bedienung und wendet sich zum Gehen. 

Jacques trinkt einen Schluck Champagner und schaut sich um. Das Restaurant beginnt sich zu füllen. Gerade betritt ein junges Paar das Restaurant. Beide sind trotz Schirm ziemlich durchnässt. „Haben Sie reserviert?“, ruft ihnen Claire von der Theke aus zu. Der Mann nickt. „Ja, haben wir. Telefonisch, vor einer halben Stunde.“ „Ach Sie sind das! Warten Sie, ich nehme Ihnen Ihre Garderobe ab. Sie haben Glück. Es ist mein letzter freier Tisch heute Abend. Gleich vorn links an der Bar.“ Claire weist ihnen mit der Hand den Weg. Jacques blickt dem Paar hinterher. Weder der Mann noch die Frau sind aus der Stadt. Doch wie Touristen wirken sie nicht. Dafür sind sie zu korrekt gekleidet. Vielleicht sind sie beruflich in der Gegend. 

Die Engländer bekommen ihre Vorspeise. „Bon appétit“, ruft er Ihnen zu und schaut sich erneut im „A Table“ um. „So ist es immer“, denkt er. Gegen 19 Uhr hat man das Gefühl, allein zu speisen. Eine Stunde später ist keiner der zwölf Tische mehr frei.

Zweiter Gang

Jacques isst gern im „A Table“. Auch wenn viele Touristen die Tische besetzen, fühlt er sich wohl. Er beobachtet die Gäste, führt mit ihnen das ein oder andere kurze Gespräch und lauscht ihren Unterhaltungen. Manchmal bettet er die Gäste auch in Geschichten ein, die er sich aufgrund deren Äußeres und ihrer Gespräche ausdenkt. 

Claire bringt seine Vorspeise, begleitet von einem Korb Brot. Sie wünscht ihm einen guten Appetit und lässt ihn mit der Foie gras allein. Jacques liebt Gänseleberpastete und diese hier, nach Art des Hauses, trifft voll seinen Geschmack. Sein Gaumen entdeckt Spuren von Äpfeln und Nüssen, doch ist die Pastete keineswegs süß – nein sie hat genau die richtige Würze und harmoniert vorzüglich mit dem Rest seines Champagners.

Während er kaut, geht sein Blick wieder zum Fenster. Auf der Straße sind weniger Menschen unterwegs und so fällt ihm die Frau, die neben der Kirche auf das Restaurant zuläuft, sofort auf. Er hört auf zu kauen. Schnappt nach Luft. Kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Erhebt sich. Schaut konzentriert. Sein Herz schlägt schneller. Sein Hals wird trocken. Die Knie fangen an zu zittern. Dann stürzt er zur Tür und reißt sie auf. 

Marguerite eilt zu ihm. „Alles in Ordnung mit dir?“ 

„Nein … ja. Ich dachte…“, stammelt Jacques. Dann schaut er noch einmal aus der Tür, aber die Frau ist verschwunden. „Danke, Marguerite, es geht wieder. Ich hätte schwören können, das war Valérie.“ „Valérie?“ Marguerite ist irritiert. „Siehst du jetzt schon Gespenster. Du weißt, dass sie tot ist.“ „Ich weiß, aber ich schwöre dir, die Frau, die ich gesehen habe, sah aus wie sie.“ „Vielleicht heute Abend keinen Wein…“, scherzt Marguerite. „Ich bitte dich. Ich bin klar im Kopf. Bring mir ein Glas Chablis zum Hauptgang.“

Marguerite begleitet Jacques zu seinem Platz und räumt Vorspeisenteller und Champagnerglas ab. 

Jacques versucht, seinen Gefühlen Herr zu werden. Da öffnet sich die Tür des Restaurants und die Frau, die er eben gesehen hatte, tritt ein. Jacques erstarrt. „Guten Abend“, sagt die Frau. Marguerite wendet sich ihr zu und hält vor Überraschung inne. Jacques hatte Recht. Die Frau hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Valérie. Aus der Ferne kann man sie verwechseln. „Guten Abend, Madame. Haben Sie reserviert?“ „Nein, ich habe mich spontan entschieden, noch etwas zu essen.“ Marguerite macht eine ausladende Handbewegung. „Wie Sie sehen, sind all unsere Tische belegt. Es wird sicherlich noch eine gute halbe Stunde dauern, bis etwas frei wird. Aber wenn Sie möchten, können Sie gern an der Bar Platz nehmen.“ Bevor die Frau antworten kann, ist Jacques zur Stelle.

„Marguerite, die Dame kann mit mir speisen… Madame, wenn Sie erlauben.“ Jacques nimmt der Frau den Mantel ab und führt sie an seinen Tisch. Marguerite bringt ein zweites Gedeck. „Bitte warte noch mit meinem Fisch. Ich möchte mit der Dame gemeinsam speisen.“ Dann blickt er die Frau an: „Champagner für Sie?“ „Nein, vielen Dank. Ich muss was essen.“, und an Marguerite gewandt: „Bringen Sie mir bitte das Kalbsfilet und dazu ein Glas Sancerre.“

Dritter Gang

Die Frau mustert ihn. „Bitte entschuldigen Sie. Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt.“ Jacques erhebt sich leicht und deutet eine Verbeugung an. „Jacques Dubois. Ich bin Innenarchitekt hier in der Stadt. Ich habe vor fast dreißig Jahren das Büro meines Vaters übernommen und führe es jetzt in der dritten Generation. Unser Name ist ein Begriff in der Gegend. Wir kümmern uns um Ladenausbau, Hotels, Restaurants, richten aber auch private Häuser und Wohnungen ein.“ Er machte eine kurze Pause. „Wissen Sie … Sie erinnern mich an jemanden. An eine Frau. Ich habe sie vor einigen Jahren aufgrund eines Unfalls verloren.“ „Das tut mir leid.“, erwidert die Frau. Jacques hängt seinen Gedanken nach. Valerie war sein Ein und Alles. Fünfzehn Jahre jünger als er, intelligent, humorvoll, dem Leben zugewandt. Er wollte mit ihr neu anfangen. Nach seiner Scheidung noch mal sein Glück versuchen, vieles anders machen. Es war alles vorbereitet. Sie hatten das Stadthaus von Madame Martin erworben, gemeinsam umgebaut und eingerichtet. Er hatte jemanden eingestellt, um beruflich kürzer zu treten. Valerie war sogar bereit, ihr Nomadenleben für ihn aufzugeben und sesshaft zu werden. Als freie Fotografin hätte sie hier in der Region schnell Fuß gefasst. Er hatte Kontakte, war bestens vernetzt. Er hätte ihr Aufträge vermittelt. Sie hätte seine Projekte fotografieren können, Hochzeiten, Taufen. Feste gab es genug. Nur eine letzte Reisereportage wollte sie vor dem Neubeginn noch machen. Noch einmal Brasilien mit ihrer Kamera durchstreifen bevor sie den Rucksack auf dem Dachboden verstaute. Eine Reise. Das war 2009.

Jacques wendet seinen Blick wieder der Frau zu. „Ich habe Valérie durch einen Flugzeugabsturz verloren. Sie war auf dem Rückweg von Brasilien. Vielleicht erinnern Sie sich. Die Air-France-Maschine. Es war in den Medien.“ Die Frau nickt. Jacques macht eine Pause. „Sie ähneln Valérie sehr. Ihre Figur, Ihr Kleidungsstil, Ihre Bewegung, die Haarfarbe, der Schnitt, sogar Ihr Gesicht weist ähnliche Züge auf. Und wie Sie keinen Tisch bekamen, da habe ich mich spontan dazu entschieden, Sie einzuladen. Ich wollte Sie nicht überrumpeln. Sie sind mir nichts schuldig. Es ist nur. Ich dachte… Na ja, vielleicht haben Sie ja auch mehr Freude daran, in Gesellschaft zu Abend zu essen.“ Jacques Stimme klingt brüchig. Die Frau beschließt, ihm seine Unsicherheit zu nehmen. „Vielen Dank, dass Sie mich an Ihren Tisch eingeladen haben. Es stimmt, ein Essen zu zweit ist viel netter.“ Ihre Hauptgerichte und der Wein werden gebracht. Sie essen eine Weile schweigend. „Wie schmeckt es Ihnen?“, fragt Jacques. „Ausgezeichnet“, antwortet die Frau. Dann nimmt sie ihr Weinglas und prostet ihm zu: „Auf das gute Essen und den schönen Abend.“

Jacques sagt nichts, er betrachtet sie. Wie alt mochte sie sein? Ende dreißig, wie Valerie damals? Die Frau ist attraktiv. Leicht gebräunter Tein, dunkle Augen, geschwungene Augenbrauen, volle Lippen. Wie Valerie ist die Frau kaum geschminkt. Jacques Blicke wandern tiefer. Das dunkelblaue T-Shirt liegt eng am Körper und lässt die festen Brüste erahnen. Der blaue Samtblazer ist leicht tailliert und unterstreicht ihre Figur. Die Hände sind zart und gepflegt. Bis auf goldene Ohrstecker und einer dezenten Perlenkette trägt sie keinen Schmuck. Die Frau spürt Jacques Blicke auf ihrer Haut und sieht ihm direkt in die Augen. Es knistert.

Letzter Gang

Nachdem beide ihren Hauptgang beendet haben, räumt Marguerite die Teller ab. „Darf ich euch noch ein Dessert bringen?“ Sie nicken und bekommen die Karte. Jacques entscheidet sich für eine Crème brulée, sie für ein Schokoladenküchlein. Dazu nehmen beide einen Café.

Eine Weile sitzen sie schweigend einander gegenüber. Die Frau betrachtet Jacques. Der Mann ist attraktiv. Sie schätzt ihn auf Ende fünfzig. Sein durchtrainierter Körper lässt vermuten, dass er regelmäßig Sport treibt. Das dunkle Haar ist schon von vielen silbernen Fäden durchzogen. Hände und Zähne sind gepflegt. Der schwarze Rollkragenpullover betont seine sportlich-elegante Erscheinung. An seinem rechten Handgelenk erkennt sie eine Jaeger-leCoultre. Vielleicht ein Erbstück seines Vaters.

„Wie heißen Sie eigentlich?“, unterbricht Jacques das Schweigen. „Anne. Anne Leroy“ Wo leben Sie, Anne?“ „In Paris.“, antwortet sie. Er nickt. „Paris ist eine faszinierende Stadt. Es gibt tolle Museen, schöne Parks, ein vielfältiges Restaurant- und Kulturangebot. Wenn man wie ich vom Land kommt, dann genießt man das einige Jahre. Aber Paris hat auch eine Kehrseite. Die Stadt schläft nie, pulsiert. Hier oben in der Normandie ist es anders. Die Weite der Landschaft, das Meer, sogar die Leute strahlen eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus. „Das klingt so, als würden sie der Stadt gern den Rücken kehren.“ Anne nickt. „Das tue ich. Morgen kommen die Möbel.“ Jacques Herz hüpft.

Keiner von beiden sagt ein Wort. Lediglich ihre Augen sprechen miteinander, versuchen zu ergründen, was im anderen vorgeht. Auf einmal legt Jacques seine Hand auf ihre. Anne spürt ein Kribbeln in der Magengegend. Jacques Zeigefinger streicht sanft über ihren Handrücken. Eine Hitzewelle steigt in ihr hoch. Ihr Herz klopft schneller. Sie errötet.

In diesem Moment bringt Marguerite das Dessert. Sie essen schweigend. Mittlerweile sind sie die einzigen Gäste im Lokal.

Da ihre Hände mit dem Dessert beschäftigt sind, suchen die Beine unter dem Tisch einander. Anne reibt ihr Knie an seinem. Die Berührung ist intensiv. Die Erregung steigt. Seine Hose spannt. Das Verlangen aufeinander wächst. 

„Darf ich Sie noch auf einen Calvados zu mir einladen?“, fragt Jacques. Anne nickt. Sie öffnet leicht ihren Mund. Ihre Zunge umspielt ihren Löffel. Jacques Blicke ziehen sie aus. Er will sie.

Jacques räuspert sich. „Ich bin gleich wieder da.“ Er geht zur Theke, um die Rechnung zu begleichen. Sie folgt ihm mit ihrem Blick. Als er sich umwendet, macht Jacques Herz einen Sprung. Er greift sich an die Brust und sackt zusammen.