Atmen lernen

Henry geht, erst langsam dann immer schneller. Jetzt rennt er, den Kopf starr geradeaus gerichtet. Der Wind wird stärker. Henry rennt weiter, obwohl der Wind ihm die Luft zum Atem nimmt. Henry schnappt nach Luft. „Henry, alles okay?“. Henry fährt hoch. Lisa berührt in sanft am Arm. „Alles okay mit dir? Du hast so komisch geatmet.“ Henry blickt Lisa an. Langsam kommen die Erinnerungen zurück. Der Stau. Die Müdigkeit. Das Motel. „Ja, alles okay. Ich habe wohl nur etwas geträumt.“

Helene Loev

Atmen lernen

Henry verstaut das Gepäck im Kofferraum und öffnet ihr die Beifahrertür. „Vielen Dank.“, Lisa ist überrascht. „Ich weiß nicht, wann mir das letzte Mal ein Mann die Wagentür aufgehalten hat.“

Henry steigt ein, schnallt sich an und startet den Motor.

Die ersten Kilometer fahren sie schweigend. Immer wieder schaut er verstohlen zur Seite, um sie zu betrachten. „Woran denken Sie?“, versucht Henry eine Unterhaltung in Gang zu bringen. „An dies und das.“ Erneutes Schweigen. Dann ergreift Lisa das Wort? „Und Sie?“ „Ich fühle“, antwortet Henry. „Und was fühlen Sie?“, fragt Lisa. „Ich fühle in mich hinein und versuche herauszufinden, was Ihre Gesellschaft mit mir macht.“ Lisa schweigt. Dann fragt sie nach einer Weile: „Und? Was macht meine Gesellschaft mit Ihnen?“ Henry ist ehrlich. „Sie tut mir gut. Es ist komisch, wir kennen uns kaum und das Zusammensein mit Ihnen fühlt sich sehr stimmig an. Unverkrampft. Natürlich.“ Lisa lächelt. „Das freut mich. Mir geht es genauso.“

Mit einem Mal bremst Henry stark. Er hat Mühe das Auto in der Spur zu halten. Die Rücklichter der vorderen Autos kommen gefährlich nah. Die Räder von Henrys Auto quietschen. Er tritt noch stärker auf die Bremse. Sie werden nach vorn geworfen. Lisa schreit vor Panik. Das Auto kommt zum Stehen. Henry schaltet den Warnblinker an und behält über den Rückspiegel den sich nahenden Verkehr im Blick. Die Autos bremsen rechtzeitig und signalisieren ihrerseits über die eingeschalteten Warnblinker die Gefahrensituation. Lisa sitzt zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, zittert und weint. Henrys Herz schlägt vor Aufregung wie wild. Er versucht, sich auf seinen Atem zu konzentrieren, um ruhiger zu werden.Dann wendet er sich Lisa zu und legt ihr eine Hand zur Beruhigung auf den Arm. „Bitte entschuldige, dass ich so scharf bremsen musste“ – unbemerkt ist Henry zum vertrauteren „du“
übergegangen“ – „das Stauende lag hinter der Kurve. Ich konnte es nicht eher sehen.“ Lisa reagiert nicht auf seine Worte. Sie ist in sich versunken, zittert und schluchzt. Doch sie hat aufgehört zu schreien.