Das Vermächtnis

Carl, ein angesehener Bootsbauer vom Chiemsee steht kurz vor seinem 80. Geburtstag. Er wird von seiner Frau Ilse gedrängt, die Firma an ihren gemeinsamen Sohn Hannes zu übergeben. Carl verweigert sich dieser Idee. Die Angst, sein Sohn könnte es besser machen als er, ist so groß, dass er vorgibt, unentbehrlich zu sein.
Während ein Schwächeanfall Carl dazu bringt, sich mit sich und seinem Leben auseinander zu setzen, versucht er seiner Familie gegenüber das Bild des unantastbaren Patriarchen weitestgehend aufrecht zu erhalten.

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Cover | Ines Wallum

Helene Loev | Leseprobe

Das Vermächtnis

Ilse schreckte hoch. Ein Blick nach rechts zeigte ihr, dass der Platz im Bett neben ihr noch leer war. Sie warf einen Blick auf den Wecker. 1:30 Uhr. Wahrscheinlich war Carl im Büro eingeschlafen. Oder ihm war etwas zugestoßen? Seit Carls Schwächeanfall vor drei Monaten sorgte sie sich ständig um ihn. Er würde nächsten Sommer achtzig, da konnte das Herz schon mal müde werden.

Ilse setzte sich auf den Bettrand und suchte mit dem linken Fuß ihren Pantoffel. Endlich fand sie ihn. Sie glitt hinein, stand langsam auf, zog ihren Morgenmantel an und verließ das Schlafzimmer. Der Flur lag im Dunkeln, das Treppenhaus auch. Sie ging in die Küche und öffnete das Küchenfenster. In Carls Büro brannte noch Licht.

Langsam stieg sie die knarrende Treppe Stufe für Stufe nach unten. Sie öffnete die Tür und ging quer über den Hof zum Bürogebäude. Wie oft hatte sie diesen nächtlichen Spaziergang schon gemacht. Wenn Carl doch endlich zur Vernunft kommen und die Firma an Hannes übergeben würde! Wie lange lag sie ihm damit schon in den Ohren.

Hannes war talentiert. Und sie war überzeugt, dass er sein Hobby zum Beruf machen würde. Diese Computerarbeit war doch auf Dauer nichts für ihn, war sie sich sicher. Hannes war kreativ, er liebte das Holz. Warum war Carl nur so stur?

Bevor Ilse das Bürogebäude betrat, schaute sie durch das Fenster. Carl hatte den Kopf auf den Schreibtisch gelegt. Anscheinend schlief er. Leise öffnete sie die Tür und ging durch den kahlen Flur zu Carls Büro. Die Tür war angelehnt. Sie öffnete sie. Das Knarren ließ Carl aufschrecken.„Was willst du denn hier?“, blaffte er. „Wieso rennst du im Morgenmantel rum?“

„Guten Abend, Carl“, antwortete Ilse, den Vorwurf ignorierend. „Es ist halb zwei. Du warst nicht im Bett. Da hab‘ ich mir Sorgen gemacht. Aber wie ich sehe, geht es dir gut. Gute Nacht, Carl.“