Neunzig Minuten

Zwanzig Jahre keinen Kontakt und dann die Verabredung in Paris: Andreas möchte mit seiner früheren Liebe Hanna nach der Trennung von seiner Frau ein neues Leben beginnen. Doch bei beide machen sich auf dem Weg zum Wiedersehen Zweifel und alte Ängste bemerkbar.

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Helene Loev | Leseprobe

Neunzig Minuten

Andreas schälte sich aus dem Bett und öffnete die Tür zur Dachterrasse. Es schon angenehm warm. Der Himmel war blau – ein schöner Tag in Paris kündigte sich an. Von der Straße drangen Hupgeräusche zu ihm. Andreas verspürte Kaffeedurst und ging in die Küche. Doch die Suche nach Kaffee blieb erfolglos. So entschied er sich, unter die Dusche zu gehen, zog sich an, griff nach Handy, Schlüssel und Geldbeutel und verließ die Wohnung. In der Bar an der Ecke trank Andreas einen Espresso und stieg anschließend in ein Taxi zum Flughafen.

Noch 60 Minuten.

***

Hanna hatte die Augen geschlossen und dachte nach. In ihre Vorfreude mischte sich jetzt ein Gefühl der Angst. Wie würde es für sie sein, nach mehr als zehn Jahren nach Paris zurückzukehren? Nach Bens Tod hatte sie die Stadt fast fluchtartig verlassen. Zu viele schmerzende Erinnerungen. Warum musste es ihn treffen? Sie standen kurz vor ihrer Hochzeit, wollten gemeinsam eine Familie gründen. Dann der Flug von Montreal zurück nach Paris. Das geplatzte Aneurysma, neun Monate Koma. Eine Lungenentzündung erlöste Ben. Bis zuletzt hatte Hanna gehofft, fast jeden Tag an seinem Bett gesessen, zu ihm gesprochen, für ihn gesungen, an seinem Bett geweint. Als die Nachricht von seinem Tod kam, wechselte sie zuhause gerade die Kleidung. „Sie können nichts für ihn tun. Gehen Sie nach Hause. Schlafen sie ein wenig.“, hatte ihr die Schwester gesagt. Hanna war gegangen. Und Ben auch. Mit ihr. In andere Gefilde.

Hanna unterdrückte die Tränen, die in ihr aufstiegen. Sie hatte Bens Tod immer noch nicht verarbeitet. Sie hatte lediglich gelernt, mit dem Verlust zu leben. Hanna schaute auf die Uhr.

Noch 50 Minuten.